Einige Artikel unter meinem Pseudonym Tel Dirgis
aus dem "Luxemburger Wort", Luxemburg
1) Alexander Vaulins paradiesischer Ton A
2) Pianistische Bravour
Rezital des russischen Pianisten Alexander Vaulin
3) Der Glasperlenspieler
Rezital des bulgarischen Pianisten Vesselin Stanev
4) Tschaikowsky und die Tänzerin
Das Moscow City Ballet mit "Schwanensee"
5) Sultan Mozarts MischiMaschi
Eine Art "Entführung aus dem Serail" als Kinderoper
Alexander Vaulin im Schloss von Wiltz kurz vor Beginn seines Konzerts
Foto: SvB
Von Tel Dirgis «Luxemburger Wort», Luxemburg, Dienstag 8.2.2005
PIANISTISCHE BRAVOUR
REZITAL von ALEXANDER VAULIN
„Sein Klavierspiel ist wie der tiefste Klang der schönsten Glocken Russlands“, schrieb eine Kritikerin über seine Rachmaninow-Interpretation. In der Tat, Alexander Vaulins Stil und sein Anschlag
sind unverkennbar: Mit seiner rechten Hand berührt er im funkelnden Diamantschliff die Sterne, und aus seiner linken bricht in vulkanischer Rhythmik Eros aus. Doch kein Eros ohne Psyche; sie
schwebt durch die musikalische Zwiesprache beider Hände und nimmt sich dann wieder in zartestem Pianissimo zurück, bis zum nächsten Anschlag durch die ungewöhnlich ausgeprägte linke Hand. Kenner
meinen, Alexander Vaulin sei nur mit Swjatoslaw Richter zu vergleichen. Paul Badura-Skoda schrieb im Jahre 2000 über ihn, dass er einer der fähigsten Musiker sei, denen er je begegnete.
Alexander Vaulin, 1950 in Moskau geboren, schloss die legendäre Gnessin-Musikschule mit der Goldmedaille ab und das Studium am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium mit Auszeichnung. Nina Lelchuk,
Schülerin und Assistentin des brillanten Pianisten Prof. Yakov Flière, bildete ihn aus. Nach Konzertreisen durch die gesamte Sowjetunion zeichnete er als verantwortlicher Herausgeber für
Klavierwerke im damals weltgrößten Musikverlag, „Muzyka“.
Heute lebt Alexander Vaulin in Dänemark und setzt neben Konzerten und CD-Einspielungen seine Tätigkeit als Musikforscher fort. Dabei stieß er auf Vergessenes von überwältigender Schönheit,
Urfassungen, Unbekanntes. Komponisten widmeten ihm Werke: Boris Tistschenko erkannte ihm seine achte Sonate zu, die Vaulin als bisher Einziger im Westen spielt. Sergej Slonimski komponierte für
ihn sein zweites Klavierkonzert, Valentin Silvestrov schrieb ihm eine zauberhafte Suite, die nur er spielen darf. Dass es zu dem kurzfristig angesetzten Konzert kam, ist einer spontanen
Zusammenarbeit zwischen dem „Centre A.S. Pouchkine“ und „Les Amis de la musique de chambre au Château de Wiltz“ zu verdanken. Das Programm reichte von norwegischer (Grieg) über schwedische
Romantik (Stenhammar) bis zu russischer Ekstase (Skrjabin) und russischem Neoklassizismus (Tistschenko). Weich floss das Licht des mächtigen Kronleuchters im vollbesetzten Rittersaal des
Schlosses über Vaulins Spiel.
Das Programm wurde eröffnet mit Griegs Urfassung der „Holberg-Suite“ im alten Stil für Klavier, gewöhnlich nur in ihrer späteren Form für Streichorchester zu hören. Wie weiche Glöckchen-Anschläge
dringen die Töne in eine imaginäre Barockkirche ein, in der der Geist J.S. Bachs weht. Tänzerisches Spiel auf den Tasten, eine leise Arie, die in Trance versetzt mit, wie es scheint, einem da
capo bis in die Unendlichkeit, dann wieder ausgelassener Übermut im Hoftanz. Wilhelm Stenhammars Sonate in g-Moll, von überwältigender Leuchtkraft in ihrem wechselnden melodischen Ausdruck der
Hochromantik in der Nachfolge Schumanns, reißt förmlich mit. 1890 von dem 19-Jährigen, der zu einem der größten schwedischen Komponisten wurde, verfasst, sind ihre Noten auch heute noch nicht
gedruckt. Sie ist ein Meisterwerk, unvergesslich durch Vaulins Interpretation.
Skrjabins „Deux Danses“, verspielt und tatsächlich wie Girlanden aus der Tonkunst, leiten über zu „Vers la flamme“, jener Komposition, von der Horowitz sagte, dass sie für ihn zu den
schwierigsten der Musikliteratur gehöre. Fast unaufhörlich überkreuzen sich die Hände des Pianisten in Akten von Bravour. Dann Boris Tistschenkos Sonate Nr. 8, die dem Pianisten das Maximale an
Virtuosität, Kraft und mentaler Konzeption abverlangt. Obwohl echter russischer Neoklassizismus, geht sie dennoch ins Abstrakte über. Beginnt die Sonate mit Staccati in fröhlicher Monotonie, so
endet dieses Monumentalwerk, unterbrochen durch „neckische und schnurrende“ Themen, episodische Fugati und Martellati, in fulminanter Furore.
Den Höhepunkt stellen Clusterpassagen „in ungehemmter Wildheit“ dar, die der Pianist mit den Handflächen und den Außenseiten der Finger anschlägt - über die gesamte Tastatur. Der Flügel im
Wiltzer Schloss, auf dem schon Richter mit gleicher Virtuosität und Kraft spielte, hielt es aus. Man erwartet eine Zugabe. Vergeblich. Vaulin erklärte dazu später: „Der dritte Satz selbst ist
schon wie eine Zugabe! Was kann darauf noch folgen?“
Alexander Vaulin, Klavier. Château de Wiltz, 22. Januar 2005
Grieg - Aus Holbergs Zeit; Stenhammar - Sonate g-Moll; Skrjabin - Deux danses, Vers la flamme; Tistschenko - Sonate Nr. 8
Luxemburger Wort, Luxemburg, Samstag 29. Juli 2006
Auf der Wiltzer Schlossbühne
TSCHAIKOWSKY UND DIE TÄNZERIN
Das Mocow City Ballet mit dem „Schwanensee“
von Tel Dirgis
Über drei Abende erstreckte sich die Ballett-Gala mit Tschaikowkys unsterblichem „Schwanensee“ inmitten eines natürlichen Sommernachtspanoramas, um das selbst Anna Pawlowa das „Moscow City Ballet“ beneidet hätte. Mit über 50 Tänzern/innen reiste es direkt aus Moskau an. Es rangiert heute an dritter Stelle – nach dem Moskauer Bolschoi- und dem St. Petersburger Kirow/Mariinsky-Ballett.
Als Victor Smirnov-Golovasnov, Choreograf und Künstlerischer Leiter der Compagnie, selbst 21 Jahre lang Mitglied des Bolschoi, davon zehn als Solotänzer, 1988 das „MCB“ gründete, ging er ein ungeheures Wagnis ein. Er verankerte es an jenem Platz, an dem sich auch das Bolschoi- und das Mali-Theater erheben: im Akademischen Jugendtheater, in dem einst Prokofjew sein Werk „Peter und der Wolf“ uraufführte.
Inzwischen befindet sich das „Moscow City Ballet“ oft weltweit auf Tournee. Über 1600 Aufführungen allein in England, wo es gewöhnlich monatelang überwintert. Auch dort genießt es den Ruhm des vollendet koordinierten Corps de Ballet – unverzichtbar, um aus „Schwanensee“ ein sinnliches Erlebnis zu machen. Reisenbedeuten jedoch, dass täglicher Drill und Proben praktisch überall stattfinden – in Wiltz war es in der Schule.
Chef-Ballettmeisterin der handverlesenen jungen Tänzer/innen ist Ludmila Nerubashenko, einst selbst Solistin an der Staatsoper Odessa, ehe sie Victor Smirnov-Golovanov heiratete. Ihr sind Wunderschöpfungen zu verdanken, wie die von der britischen Presse hochgelobte 19-jährige kasachische Solotänzerin Anastasia Gubanova, der sie den letzten Schliff anlegte und die auch die Doppelrolle Odette/Odile bei der Premiere in Wiltz bestritt. Es war die 610. Aufführung von „Schwanensee“ des „Moscow City Ballet“.
Doch dann, bei der dritten Gala, geschah ein Phänomen … Der Name dieser Primaballerina, nicht im Festspiel-Katalog vermerkt, stand auf dem Programm der zweiten und dritten Soiree: Tatiana Krasnova. Vom Augenblick ihres ätherischen Erscheinens an schlug sie das Publikum in ihren Bann. Mit übernatürlicher Aureole, ohne Jugend und ohne Alter, tanzte sie in technischer Perfektion das Unglück des verzauberten weißen Schwans und die verführerischen Künste des schwarzen in Erwartung der erlösenden Liebe: eine große Tänzerin, bei der selbst die gefürchteten 32 Fouettés im Schwarzen Akt wie Flügelschläge einer Libelle wirken.
Tosender Beifall
Ihr ist Prinz Siegfried (Mikhail Mikhailov als eleganter „danseur noble“) ergeben. Für ihn gibt die Königin am Tage seiner Großjährigkeit das Fest, auf dem er sich aus den Delegationen der Völker eine Braut erwählen soll. Doch er verliebt sich in die Schwänin Odette, bricht sein Versprechen, als er sie auf dem Fest, schwarz verkleidet als Odile in Begleitung des Zauberers nicht erkennt … und die Geschichte nimmt ihren Lauf; je nach Choreograf mit einem zu Tschaikowskys pathetischer Musik tragischen oder „happy end“. Smirnov-Golovanov entwarf ein spektakuläres Glücks-Finale.
Nach tosendem Beifall fanden wir Tatjana Krasnova später im Zelt am Schloss. Glücklich erzählte die zerbrechliche 18-jährige Baschkirin, dass sie wegen ihres 4 Monate alten Babys lange ausgesetzt hatte. Dies waren ihre ersten neuen Auftritte. Und ihre Traumrolle? „Romeo und Julia!“
Luxemburger Wort, Luxemburg, Freitag 22. Dezember 2006
Théâtre national du Luxembourg
Sultan Mozarts MischiMaschi
Eine Art „Entführung aus dem Serail“ als Kinderoper
von Tel Dirgis
Zwanzig ausverkaufte Vorstellungen im Théâtre National du Luxembourg – das ist die Ernte, die das Werk-Team W.A. Mozart, Andreas Wagner, Jacqueline Posing-Van Dyck auf einem Fliegenden Teppich ins Theater hineinfegte. Auch die Weihnachtsplätze sind bereits reserviert.
Auf dem Programm ist Mozart mit Sultansturban abgebildet. Das regt die Fantasie an. So wundert man sich nicht, dass „Mozart im Reich von 1001er Nacht“ (das im Märchen ja eigentlich, mitsamt dem Fliegenden Teppich, nach Bagdad gehört und nicht an den türkischen Serail) … nun, dass Mozart von Anfang an grazil, flink, fast als echter Mozart vorstellbar, im spannenden Geschehen auftaucht und seine Arien selbst singt (Alexander Wendt).
Mit Osmin, dem Palastwächter, schillernd dargestellt, der überragenden, die Kinder gesanglich und schauspielerisch in den Bann ziehenden Figur (Jean Bermes), liefert sich Mozart sogar ein Duell mit dem Teppichklopfer.
Mozart ist verzweifelt: Vorne ein Palastdekor, im Hintergrund die „Blaue Moschee“ von Istanbul. Denn mitsamt der Koloratur trällernden Konstanze (Edith Lorans) und ihrer kecken Zofe Blondchen (Valérie Vervoort) sind auch seine Noten aus einer Wiener Probe heraus in den MischiMaschi-Orient entführt worden, und in wenigen Tagen will er seine Oper aufführen …
Was tun? Da hilft nur die Flucht aus dem Serail mittels einer roten Leiter. Acht Kinder lassen sich gelbe Bauarbeiter-Schutzhelme aufsetzen, schieben das Gerüst an, der Mond zieht auf. Osmin, trunken gemacht, wird in den Teppich eingerollt. Doch zu früh, verflixt, wacht er auf …
Das Ende ist „happy“
Das Ende ist „happy“. Auch Pedrillo (Tobias Schöner), der Diener, hat seine verzwickte Rolle glänzend gemeistert. Die Fünft sitzen auf dem Teppich, Osmin mit Motorrad-Brille, die türkische Wasserpfeile dient als Pilothebel, und „Teppichflug 541“ startet nach Wien zum Opernhaus. Arien, Texte, an die Kinder gerichtet, Duette, Terzette, vollziehen sich zu Mozarts Musik („live“, von einem Trio) spielerisch in der feinfühligen Inszenierung von Jacqueline Posing-Van Dyck. Die Kinder, in ihren Schulen vorbereitet, fallen begeistert mehrfach im Chor ein.
Doch ein wiederholt politisierender Zwischentext zur „Freiheit der europäischen Frauen“ gehört nicht in diesen Kinderopern-Schmaus und sollte nach der gelungenen luxemburgischen Uraufführung überholt werden, ehe er anderswo zu unangenehmen Folgen auf dem Schulhof führen könnte. Vielleicht hilft da noch ein … WischiWaschi.