Thriller
New York, vor 2001. Sandra Verrone, 24, italo-amerikanische Kunsthistorikerin, ist nach einigen Jahren des Aufenthaltes in Beirut nach New York zurückgekehrt. Dort trifft sie ihren Jugendfreund Fehmi wieder, inzwischen libanesischer Diplomat bei der UNO. In unaufhörlicher Folge verstricken sich ihre Abenteuer im Kunst- und Finanzmilieu Manhattans sowie in der UNO und um die UNO herum. Als Fehmi bei einer Gasexplosion stirbt, übernimmt Leutnant Marcone von der Sondereinsatzbehörde die Ermittlungen. War es ein Unfall – oder Mord? Ahnungslos, doch eingebunden in die Geschehnisse, nimmt Sandra eines Tages eine verhängnisvolle Einladung in ein Ranch-Hotel außerhalb New Yorks an. Fast genau auf den Tag – nach einem Jahr – schließt sich der Kreis, und für Sandra läuten die Hochzeitsglocken …
Deutsche Erstveröffentlichung 2023
ISBN 9783848208395
I
Es war einer dieser kalten, ja, man kann sogar sagen, eiskalten Märzmorgen in New York, an denen einem der Wind ins Gesicht peitschte und der Regen als unangenehme, feuchte Masse aufklatschte.
Sandra Verrone hatte bereits um sieben Uhr ihre kleine Drei-Zimmer-Wohnung in Greenwich Village verlassen, obwohl der Termin erst gegen neun Uhr stattfinden sollte. Was für ein Termin eigentlich? Ja, da war noch etwas anderes, der Besuch beim Zahnarzt um zehn Uhr.
Aber das alles hatte zweitrangige Bedeutung. Es ging doch nur um eine Sache, um den Besuch in der Buchhandlung auf der Lower West Side und darum, den Mikrofilm in dem Geschichtsbuch über Karl den Großen zu verstecken.
Sandra Verrone war vierundzwanzig Jahre alt und von Beruf Kunsthistorikerin. Sie lebte erst seit einem Jahr in Greenwich Village.
Dass sie diese kleine, aber gemütliche Wohnung überhaupt auf Anhieb erhalten hatte, verdankte sie allein ihrer Freundin, die dieses Apartment nach einigen Jahren des Aufenthaltes aufgegeben und an sie weiterempfohlen hatte. Es lag im dritten Stock. Gegenüber wohnte ein sizilianisches Ehepaar ohne Kinder. Der Mann war so um die Fünfunddreißig, die Frau hatte schätzungsweise das gleiche Alter. Beide arbeiteten im UNO-Hauptgebäude am East River. Sie lebten nun schon im dritten Jahr in Manhattan und wollten diesen Ort auch nicht mehr verlassen. Federica und Giancarlo waren angenehme Nachbarn. Wie alle Südländer, liebten sie die Geselligkeit, machten jedoch keinen überflüssigen Lärm und fielen so gar nicht auf.
Eigentlich hatte Sandra nur wenig Umgang mit ihnen gehabt – er beschränkte sich darauf, ihre bei einem dreimonatigen Studienaufenthalt in Perugia/Italien erweiterten Sprachkenntnisse anzuwenden. Da Federica aus Taormina auf Sizilien stammte und Sandra dort schon zweimal ihren Urlaub verbracht hatte, um eine ehemalige Schulfreundin zu besuchen, die im Tourismusbereich tätig war und einen Einheimischen geheiratet hatte, tauschten sie hin und wieder italienisch-sizilianische Erinnerungen aus.
An den Wochenenden war das Ehepaar zumeist verreist, irgendwohin in den ‚Upstate’ New York, während Sandra oft bei ihren Eltern in Southampton auf Long Island zu Besuch weilte. In letzter Zeit hatte sie aber an den freien Wochenenden darauf verzichtet, den Zug nach Hause zu nehmen und stattdessen ihre Zeit in New Yorker Kunstgalerien und Museen verbracht. Zu Hause war es ohnehin recht einsam geworden, seitdem ihr Bruder nun auch in Perugia weilte. Er befand sich im letzten Jahr des Pädagogikstudiums und kam, falls überhaupt, nur in den Sommerferien nach Long Island. Ob er jemals in die USA zurückfinden würde, stand völlig in den Sternen, da er sich in eine französische Studienkollegin verliebt hatte und nun mit dem Gedanken spielte, nach Abschluss der Universität mit Jacqueline nach Paris überzusiedeln, um dort zu unterrichten.
Sandras Vater, Giacomo, arbeitete als Ingenieur in einer Fabrik. Ihre Mutter war als Sekretärin in der gleichen Firma beschäftigt. Beide waren italienischer Abstammung, hatten jedoch ihre Kinder von Anfang an nur in Englisch erzogen, da dies die Sprache des Landes war, in das sie beide gemeinsam aus Genua eingewandert waren.
Sandra hatte in dem einen Jahr, in dem sie nun schon allein in Greenwich Village, dem Künstler-Stadtteil in der unteren Hälfte Manhattans, wohnte, viele Bekanntschaften geschlossen. Manche von ihnen waren jedoch so unglaublich, dass sie niemand davon erzählte – schon gar nicht ihren Eltern, die sich stets sofort aufregten und das Schlimmste befürchteten, obwohl sie in Southampton doch gar nicht so weit von New York entfernt lebten. Doch auch auf Long Island gab es merkwürdige Leute, obgleich in anderer Weise als jener, wie man sie in New York anzutreffen pflegte: zum Beispiel den alten ‚Suburbian’ (‚Vorstädter’), der schon seit dreißig Jahren nicht mehr nach New York City hineingefahren war, weil ihm, nach eigenen Angaben, das ‚moderne Leben’ dort nicht mehr zusagte und er es vorzog, in seiner Vorstadt zu bleiben und mit den Erinnerungen von früher zu leben.
Gleich vom ersten Wochenende an hatte Sandra jene Personen kennengelernt, die in der weiteren Entwicklung eine entscheidende Rolle spielen sollten.
An jenem Samstagabend war sie in eine Bar in Greenwich Village gegangen und hatte am Nebentisch die schicksalhafte Bekanntschaft einer alten Dame gemacht, der sie in ihrer jugendlichen Frische zu gefallen schien.
Es war eine lebhafte Person, klein, ein wenig rundlich, mit leicht gewelltem Haar aus Silberfäden, wie es schien, ein Typ, dem man auf den ersten Blick Lebenserfahrung, wie auch einen starken Willen ansah, eine Figur, die nun – wie sie Sandra sogleich gestand – tatsächlich öfters mal eine Nacht in einer Bar verbrachte, um sich die Gedanken zu zerstreuen.
Die Dame hieß Maria, nicht Mary, wie sie betonte, sondern Maria. Obwohl sie sich schon lange einsam fühlte, konnte sie es sich doch erst seit kurzem leisten, abends mal für Stunden allein auszugehen, da bis vor zwei Jahren ihr bettlägeriger Mann ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht hatte. Nach seinem Tod hatte sie sich, wie sie erzählte, noch mehr Katzen angeschafft als sie schon zuvor besaß, bis es an die Hundert waren. Schließlich hatte sie gemerkt, dass sie es physisch und psychisch nicht mehr bewältigen konnte, für alle zu sorgen und dann für sie, bis auf zwei, ein neues Zuhause gefunden.
Danach hatte sie ihr Augenmerk Gesellschafterinnen, die aus Osteuropa stammten, zugewandt. Sie selber war russischer Herkunft und konnte sich so unmittelbar mit den oft nur wenig Englisch sprechenden Frauen verständigen. Aber auch dieser Umgang füllte sie nicht ganz aus, denn die Russinnen, zumeist Ehefrauen oder Lebensgefährtinnen amerikanischer Männer, hatten auch noch andere Pflichten, denen sie nachgehen mussten.
Diese alte Dame hatte ihr nun gar Unglaubliches berichtet: Sie wollte beobachtet haben, wie sich nachts Fremde auf dem Grundstück ihres Anwesens an der Ostspitze von Long Island, in der Nähe von Montauk und dem Leuchtturm, herumtrieben und zu schaffen machten. Damit nicht genug – so behauptete sie steif und fest, Übergaben von Paketen beobachtet zu haben. Manchmal waren es zwei Gestalten, Männer offensichtlich, oder auch drei, die sich stets an der gleichen Stelle trafen, jedoch nie länger als zehn, höchstens fünfzehn Minuten dort aufhielten. Sie war überzeugt, dass ihr weitläufiges Grundstück Schauplatz mysteriöser Machenschaften geworden sei. Selber keineswegs von schreckhafter Natur, war sie nun von dem Ehrgeiz besessen, auf eigene Faust herauszufinden, was sich wirklich dort tat und hatte sich deshalb auch nicht mit den Sicherheitsbehörden in Verbindung gesetzt. Sie verließ sich allein auf ihr eigenes Gespür.
Sandra hätte solchen Geschichten sicher recht wenig Bedeutung beigemessen, wäre sie zu jener Zeit nicht auch in der Diplomats’ Lounge der UNO auf eine Reihe seltsamer Personen, die sie kennenlernte, gestoßen.
Dort hatte ihr Jugendfreund Fehmi, ein libanesischer Diplomat, sie eingeführt.
Fehmi Lofti, ein Mann von beachtlichem Aussehen, eine Gestalt wie aus einem orientalischen Bilderbuch auf Glanzpapier, unterhielt viele Verbindungen zu Berufskollegen aus aller Herren Länder und lud Sandra hin und wieder zu einem Tee- und Plauderstündchen in die Diplomats’ Lounge, den Salon, der den Diplomaten bei den Vereinten Nationen als zwangloser Treffpunkt diente, ein.
Fehmi gehörte mittlerweile auch zum Kundenkreis der Kunstgalerie ‚Lisa’ in Manhattan, in der Sandra dreimal in der Woche ganztägig und an zwei weiteren Tagen halbtags beschäftigt war.
Mit dem Libanon fühlten sich Sandra und ihre Eltern eng verknüpft. Vier lange Jahre hatten sie in Beirut gelebt, als Giacomo, Sandras Vater, ein Ingenieur, am Wiederaufbau von Straßenzügen nach dem siebzehn Jahre währenden Bürgerkrieg beteiligt worden war. Seine damalige Firma hatte ihn aus den USA dorthin entsandt. So war es Sandra und ihrem Bruder vergönnt gewesen, während dieser Zeitspanne die Amerikanische Schule in Beirut zu besuchen, und dabei hatten sie auch fließend Arabisch gelernt.
Fehmi, der libanesische Diplomat, dem sie nunmehr in New York die Einführung in die UNO-Kreise verdankte, war der Sohn der besten Freunde ihrer Familie aus eben jener Ära. Er hatte im gleichen Bezirk gewohnt wie sie, nämlich im christlichen Sektor, genauer gesagt: in Dschounieh, einige Kilometer nördlich von Beirut gelegen, also an dem Ort des noblen Yachthafens in unmittelbarer Nähe des einst sagenhaften ‚Casino du Liban’, wo er wohl auch eine gewisse Spielernatur in sich hochgezüchtet hatte. Der Zufall hatte es gewollt, dass er später, nach dem Studium in Beirut und in Genf und anschließender Laufbahn im Außenministerium, an die libanesische UNO-Gesandtschaft in New York versetzt worden war, und so sahen sie sich ziemlich oft.
Es war auch Fehmi gewesen, durch den es Sandra in jene ‚Horizon Bar’ verschlagen hatte, die sie gelegentlich aufsuchte, nachdem sie beide einige Male zusammen dort gewesen waren. In letzter Zeit hatte der Libanese es allerdings vorgezogen, seine Mußestunden zumeist woanders zu verbringen, sodass Sandra, wenn sie sich überhaupt noch dort einfand, mit der Gesellschaft anderer Personen vorlieb nehmen musste.
Leider hatte sie inzwischen den Eindruck gewonnen, dass Fehmi zu gutgläubig sei und seine Bekanntschaften in der Weltstadt New York – obwohl Beirut ja auch nicht gerade zu den zahmsten Metropolen zählte! – zu sorglos schlösse. So ließ er sich angeblich, wie sie erfahren hatte, auf riskante Geldspekulationen mit spanischen Geschäftsleuten ein, die ihn bereits um etliche Tausender erleichtert hätten.
Außerdem beschäftigte er, soweit sie wusste, eine illegal eingereiste Chinesin, deren Mann ebenfalls unerlaubt in einer Textilwerkstätte in der näheren Umgebung der Canal Street, also im Herzen Chinatowns, unermüdlich Hemden und Hosen nähte. Aber damit stellte Fehmi keinen Einzelfall dar, denn auch Sandra hatte sich schon der Arbeitskraft dieser unglücklichen Asiaten bedient, die, durch kriminelle Strukturen in die USA geschmuggelt, oft jahrelang horrende Schleppersummen abarbeiten mussten, was in den meisten Fällen durch menschenunwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen in eben diesen Textilwerkstätten geschah, die billige Massenware für den amerikanischen Markt herstellten. Hin und wieder kam eine dieser Frauen zu Sandra in die Wohnung und half ihr bei der Reinigung des Gröbsten. Angst, dabei aufzufliegen, hatte Sandra eigentlich nicht, da viele ihrer Bekannten auf ähnliche Weise verfuhren, obwohl es sich bei ihren jeweiligen Hilfen zumeist um illegal in New York City lebende Südamerikanerinnen handelte, die auf diese Weise ihr Auskommen fanden, bis sie sich irgendwann einmal behördlich registrieren lassen konnten.
Eines Tages, vielmehr eines Nachts, war Sandra in der ‚Horizon Bar’ von einem kleinen, stämmigen Mann angesprochen worden. Er erzählte ihr, dass er einige Wochen zuvor in der Kunstgalerie ‚Lisa’, in der sie arbeitete, ein Gemälde, das Werk eines italienischen Malers namens Vittorio Alesi, gesehen habe, das ihm besonders gefiel.
„Leider“, so fügte er hinzu, „ging die Ausstellung schon kurz darauf zu Ende, und der mögliche Käufer, an den ich sofort dachte, war aus den USA abwesend und befand sich gerade auf Reisen in Übersee.“
Da der Preis des Bildes recht hoch angesetzt gewesen sei und sein Bekannter, der mögliche Interessent, nur selten an sein Handy gehe, habe er die Sache fallen lassen müssen. Kurz vor Schluss der Ausstellung, so berichtete der Fremde, habe er jedoch nochmals einen Blick in die Kunstgalerie geworfen – ausgerechnet an Sandras freiem Nachmittag –, und da sei das Gemälde bereits verkauft gewesen.
„Es ist nämlich so“, führte der kleine, stämmige Gast in seiner unermüdlichen Art an, „dass jener Frauentyp, der auf dem Ölgemälde, einem Porträt, dargestellt war, ebenso wie die Stilrichtung des italienischen Malers, genau dem Geschmack meines Bekannten entsprechen. Vielleicht hat ja der Maler, der angeblich bei Padua lebt, wie ich hörte, noch andere Gemälde der gleichen Prägung erschaffen; offensichtlich bevorzugt er einen bestimmten Frauentypus, eben diesen!“
Nachdem sie ein Gläschen miteinander getrunken hatten, war der flinke, untersetzte Gast, der in dieser Bar ein- und auszugehen pflegte, nochmals auf das Thema gekommen:
„Wie ich nun aus Kunstkreisen in Manhattan erfahren habe, hält sich der italienische Maler zurzeit noch in den USA auf – es heißt, irgendwo in der Umgebung von Washington, wo eine länger andauernde Ausstellung von ihm stattfinden soll.“
Nach einer Pause bemerkte er:
„Ich nahm mir dann vor, Miss ... –”
„Sandra Verrone –”, warf sie kurz ein.
„Also, Miss, hm, Miss Sandra, bei Ihrer Chefin Erkundigungen einzuziehen, doch leider wurde ich krank, und die Zeit hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Könnten Sie sich wohl dieses Anliegens annehmen?“
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© Annabelle von Broich